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20.03.1981
Kurhaus - Theatersaal, Bad Ischl


David Murray: ts, bcl (USA)
Hamiet Bluiett: bs (USA)
Julius Hemphill: as, ss (USA)
Oliver Lake: ts (USA) 


Ungewöhnlicher Abriß der Jazz-Geschichte
Das „World Saxophone Quartet“ spielte im Ischler Kurhaus
Vereinten Kräften (nämlich der Kurdirektion, der Stadtgemeinde, Sparkasse und den Jazzfreunden Bad Ischl) war es gelungen, eine der wenigen Avantgarde-Gruppen des Jazz nach Bad Ischl zu holen. Das New Yorker „World Saxophone Quartet“. Was sie mitgebracht hatten, das waren die ihnen von der Natur und Abstammung mitgegebenen Traditionen – oder, wie sie selber es sagen: „Man kann nicht Saxophon spielen, ohne über Afrika nachzudenken.“
Und so kamen sie auf die Bühne: Vier Schwarze in schwarzen Smokings, vier Individualisten und nebenbei Vollblutmusiker, mit ihren Saxophonen Und was sie Laufe des Abends zum Besten gaben, mochte für jeden etwas anderes gewesen sein, nur eines war es ganz bestimmt nicht: Leichte oder seichte Unterhaltungsmusik. 1976 waren die vier Mitglieder des WSQ erstmals zusammengekommen, jeder von ihnen als Saxophonist schon erfahren durch die Mitwirkung in anderen Jazzformationen (und bis heute keinesfalls ausschließlich auf diese Gruppe beschränkt), um sehr gewollt und auch bewußt neues Terrain zu bespielen, neue Wege nicht nur in visueller Hinsicht zu suchen, sondern auch und vor allem – was darin eingeschlossen ist – Experimentelles ebenso wie die Suche in Traditionen (die nicht nur in vergangene Jahrhunderte weisen und führen, sondern auch auf andere Kontinente, auf Amerika und Afrika zielt).
Und das sind die vier: Hamlet Bluiett (Baritonsax, Flöte), Julius Hemphill und Oliver Lake (Alt- und Sopransaxophon) und David Murray (Tenorsax, Baßklarinette). Letzterer wird gerne – wenn solches überhaupt möglich ist – als der Kopf der Gruppe bezeichnet, er,  der in seiner Mutter sein größtes musikalisches Vorbild sieht (sie spielte in der Kirche seines Heimatortes Klavier, der Vater ebenda Gitarre) und der mit seinen 25 Jahren bereits Aufnahmen mit wohl allen wirklich Großen im experimentellen Jazz hinter sich hat.
Experten zählen das WSQ zu einer der Hoffnungen der Jazzavantgarde: Die Musiker verzichten nicht nur auf Mikrofone und Verstärker, sie spielen vor allem auch ohne Rhythmusgruppe und das macht sie so einmalig wie vorbildlos („… we all got heart beats, so we don´t need a rhythm section…“ - wozu brauchen wir denn Baß oder Schlagzeug, wir haben doch das Pochen unserer Herzen). Nur im konkreten Fall: Die Herzschläge von Musikern und Zuhörern auf gleich zu stimmen, erwies sich als nicht ganz einfaches Unterfangen und ließ jede Hilfe dankbare Aufnahme finden. So wurden neben den langsamen, ruhigen Nummern jene zu Titel mit zu den stärksten des Abends, bei denen zwei oder auch der Instrumente den Rhythmus pulsieren ließen und damit dem oder den anderen die Möglichkeit eröffneten, frei darüber zu improvisieren. Da Swing in einem sehr viel weiteren, breiteren Verständnis, dort bedächtige, manchmal sogar flächige, immer aber virtuose Klangbilder (was eine gewisse Unfähigkeit nicht zu bannen vermochte, Anspielungen und Zitate aus der Jazzliteratur immer zu verstehen oder gar nachzuvollziehen).
Es gibt keine Unterordnung in diesem Quartett, nur Gleichberechtigung, wenn die vier einmal nach Note, dann wieder in freier Improvisation spielen, imponierend durch die exzellente Beherrschung des Instrumentes bei den Soli, um gleich danach der Phantasie wieder die Zügel schießen zu lassen, was durchaus in ein Chaos führen konnte (wenn es erlaubt ist, die Überlagerung von vier verschiedenen, aber gleichzeitig und nebeneinander sich entwickelnden Melodien als solches zu bezeichnen). Anders hingegen wurde die Spielart, wenn die Flöten oder Klarinette zum Einsatz kamen und nicht vier Saxophone gleichzeitig auf ihre Rechte pochten, dadurch ein ruhigeres, bedächtigeres Betonen des Gefühls zum dominierenden Ausdruck machend – „Kammerjazz“ eben.
Freilich solle und darf man auch eines nicht vergessen: Improvisation muß zu einem guten Teil wenigstens Motivation aus der Reaktion des Publikums beziehen, aus seinem Mitgehen oder auch aus seinem Verweigern. Mag sein, daß die Risikobereitschaft doch ein bißchen zu groß war, wenn man in Betracht zieht, daß wahrscheinlich manche Großstadt sich schwertun würde, einen Saal wie den des Kurhauses zu füllen, wenn eine Gruppe auftritt, der die Attribute Free-Jazz-Avantgarde-Subkultur vorauseilen (und es wäre wirklich sehr schade, wenn die Organisatoren sich dadurch entmutigen ließen, daß die erhofften Zuhörerzahlen nicht ganz erreicht wurden). Das WSQ bildet ja nur insofern eine Ausnahme, als ihm das Kunststück gelang, aus Kellern und Clubs und Auftritten bei Jazzfestivals herauszukommen in eine breitere Öffentlichkeit, als es ihm gelang, den Rahmen zu sprengen, den ein nur auf Jazz eingeschworenes Publikum so starr wie eng zu ziehen verstand und versteht (zugestandenermaßen nicht nur aus eigener Schuld). Wahrscheinlich hätte auch ein kleinerer Saal eine intimere, weniger sterile Atmosphäre zu erzeugen vermocht.
Wer dieses Konzert miterlebt hat, wird den Abend nicht so schnell vergessen können (man sah auch den Bürgermeister unter den Zuhörern – ein gutes Beispiel, das vielleicht für ein nächstes Mal all denen Mut macht, die ihn diesmal noch nicht aufbrachten). Man hatte nicht einen Abriß der Jazz-Geschichte gelesen, man hatte ihn gehört, eine Geschichtsschreibung, die nicht mit und in der Gegenwart haltmachte, sondern auch schon die Zukunft tangierte, in sich einschloß: Nicht nur ein „back to the roots“, ein Zurück zu den Wurzeln, sondern die Präsentation einer Möglichkeit, wie Jazz, wie Musik vielleicht in zehn oder fünfzig Jahren aussehen könnte.
JOSEF H. HANDLECHNER – SALZKAMMERGUT ZEITUNG - 20. MÄRZ 1981